Adolf H. Kerkhoff , 2003

Text zur Ausstellung Espace Liquide im Kunstverein Ettlingen Wilhelmshöhe, 2003

 

Anonyme Malerei oder die Schönheit des Zufalls

 

In Deutschland sind sie trotz dauerhafter Rezession selten geworden, und Axel Philipp musste beinahe Europaweit nach ihnen suchen. Aber "natürlich" hat wohl fast jeder von uns diese "künstlichen" Gebilde schon irgendwo gesehen, viele haben sie auch "wirklich" wahrgenommen, und doch werden sie hier erstmals in ihrem Selbst thematisiert: Schaufensterscheibenübertünchungen. Ein Ungetüm von Wort für eine scheinbar völlig nebensächliche Sache. Was jahrzehntelang besonders in der deutschen Befindlichkeitsfotografie von Chargesheimer über Fiebig bis hinzu Vogel einen bloß dekorativen Randplatz im sozialen Ensemble hatte, rückt Axel Philipp in den Mittelpunkt seines fotografischen Fokus: die ästhetische Relevanz einer von ihrem Auftrag her völlig unästhetischen Arbeit. Fasst man das Thema als Problem auf, so zeigt es zwei Seiten, eine malerische und eine fotografische - und die Lösungen des Axel Philipp.

 

Die Malerei, die in den Schaufensterübertünchungen im Sinne des Wortes zu Tage tritt, kann man als solche von Innen, von Außen, und - zusammen mit dem Sonnenlicht - "schräg" betrachten. Aber damit setzt auch schon der Zerfall ein: denn die Innenseite gehört dem Handwerk, die Außenseite der Kunst und die Schrägansicht der Kunstgeschichte. Im Innern - im Laden - sitzt für uns draußen vor der Tür das große, aber in Wirklichkeit unbedeutende Geheimnis: groß, weil man von Außen allenfalls erahnen kann, ob und was drinnen ist - und doch unbedeutend. Weil die Scheibenmalerei als Handwerk "nur" eine Funktion, allenfalls die Folge des Ruins, nicht aber sein Abbild ist, stört sie sich an dem was hinter ihr liegt und ist ˆ nicht. Ja was jenseits der Malerei und somit hinter der Scheibe steckt ist hoffentlich: wirklich "nichts", denn nur das geschäftliche und das geschäftige Nichts in ihrem Rücken, ja nur die Nichtigkeit ihrer selbst garantiert die dauerhafte Existenz der Scheibenmalerei.


Hier rühren wir an einen, wenn nicht an den wichtigsten Punkt dieser wahrhaft unmöglichen Kunst: die Lebenszeit dieser Malerei, die zumeist in einem krassen Gegensatz zu ihrer Lebendigkeit steht. Nicht ohne Grund habe ich von Beginn an den Begriff Schaufensterscheibenübertünchung gebraucht: denn diese Malerei ist "nur" Kunst auf Zeit; sie soll ja nicht Blickfang sein, sondern Camouflage, die Tarnung einer Pleite bis zum Beginn eines neuen Geschäfts.


Die Wurzel des Ruins - das falsche Geschäft am verkehrten Ort - hockt als Geschäfts- und/oder Besitzername häufig noch an den Rändern der Scheiben und seine letzten verwelkten Blüten - verblasste und verwitterte Sonder- und Ausverkaufsangebote - kleben noch auf den Scheiben und warten, inzwischen ohne Hoffnung auf den Neubeginn. Denn dann wird die Farbe ja wieder abgekratzt, und allein deshalb muß sie auch - wässrige - Tünche sein. Und gerade dies scheint ja aus dem Strich des Tünchers zu sprechen: der Gleichmut der Verzweiflung, die Freiheiten der Langeweile und die Möglichkeiten der, ja die Hoffnung auf Veränderung.


Aber ich greife vor: denn noch wird gnadenlos über jeden Zettel auf und jeden Sprung in der Scheibe hinweggepinselt und -gestrichen, noch ist der Anstreicher, der erst noch zum Maler werden wird, nicht fertig. Noch ist er eben der "klassische" Handwerker im ebenso "klassischen" Dreiklang: Arbeit - Pause - Feierabend. Und genauso sind diese "Bilder" entstanden, genauso erklären sie sich - und eben doch nicht ganz.


Es bleibt ein Rest, und in diesem Rest steckt die künstlerische Potenz der (jeweiligen) Arbeit als Werk der Kunst. Paradox: während für uns der Maler unbekannt bleibt, ist für ihn zwar seine Arbeit sichtbar, sein eigentliches Werk als solches jedoch (zunächst) unsichtbar. Denn indem er seine Arbeit erledigt, erschafft er nur den Model, quasi das Negativ dieses seines Werkes, das er erst nach der Vollendung sehen kann - und damit auch erst nach seinem Publikum. Wie bei der traditionellen Hinterglasmalerei gilt auch in der Schaufensterscheibenübertünchung: das Original ist nicht das, was der Künstler sieht, sondern was er schafft. Und so wird der Handwerker unversehens zum Künstler - im Auge des Betrachters. Und aus der qua definitione öden Schaufensterscheibenübertünchung wird eine (mehr oder weniger) interessante Malerei. Dieses Ergebnis ist purer, wenn auch vielleicht nicht reiner Zufall. Denn tatsächlich wissen wir ja nicht, ob der oder die Anstreicher Malerei schaffen woll(t)en. Doch egal ob nun Individual- oder kollektives Werk: ein klassischer Fall von nichtintensionierter Kunst ? !

 

Und damit treten wir endgültig aus dem Raum über den wir noch weniger sagen können wie über die Arbeit die an seiner gläsernen Grenze geleistet wurde - denn in Wahrheit haben wir ihn nie betreten - hinaus auf die Straße. Die Straße, auf der wir ja doch die ganze Zeit waren, den eigentlichen Schauplatz dieser Schaufensterkunst. Und das ist das nächste Paradox: die "Kunst" wird im Innenraum gemacht, findet jedoch (erst) auf der Straße statt. Der Franzose hat einen geheimen Sinn für die Entstehung dieser künstlerischen Zwitter, oder sind es Wechselbälge? Bei ihm heißt das Schaufenster auch "vitrine", also Schaukasten: die drei Dimensionen der Höhe, Breite und der Tiefe vermählen sich. im Spiel auf, hinter und in der Scheibe. Denn dadurch, daß der Raum hinter der Malerei auf der Scheibe ja real ist, ist die Idee der Bildtiefe ein klein wenig mehr als eine bloße Illusion. Wie illusionär aber ist der Kunstcharakter der Schaufenster-scheibenübertünchung - ohne eigenen Anspruch ?


Natürlich sind wir es gewohnt, "alles" durch die kunstgeschichtliche Brille zu betrachten, aber unabhängig davon: wenn es nicht nur eine vehemente, sondern auch eine stringente Arbeit ist, hat sie allen Anspruch darauf, als künstlerisches Werk - und sei es ein (mehr oder weniger) zufälliges - angesehen zu werden. Und Axel Philipp ist ihr symbolischer Geburtshelfer: er hat solche Arbeiten, solche Werke gesucht und gefunden. Er hat sie vor dem Vergessen bewahrt, und sie "eigentlich" erst zu dem gemacht, als was sie in seinen fotografischen Arbeiten erscheinen: Kunst. In diesem Sinne: die einzige "Kunst am Bau" die ich gelten lasse.