Wolf Pehlke, 1997

Text im Katalog zur Ausstellung Die Sprachlosigkeit – Die Vernutzung im Kunstverein Konstanz, 1997

 

DIE VERNUTZUNG DER ZEIT

 

Obwohl es seit Kants Antinomien müßig ist, über das Ganze der Welt theoretische Aussagen zu machen, ist es doch keineswegs gleichgültig, nach Bildern zu fahnden, die dieses als Gegenständlichkeit unerreichbare Ganze „stellvertretend“ vorstellig machen.

 

Schon seit langem sind unsere Vorstellungen über Schaffensprozesse und Erschaffungen in der Kunst von Klischees gesättigt, deren Benennung erst einmal gefunden werden musste. Genialität, Musen und Engel, Inspiration und begnadete Hände auf der einen Seite. Hinterfragungsstrategien, Spurensicherung, Konzepte und Trashkultur auf der anderen Seite. Kopf vor Bauch und Bauch vor Kopf – entweder / oder.

 

Eine kleine Geschichte der Skepsis ist angebracht. Es kennzeichnet die Zusammenhänge zwischen AbgeBildetem und unserer Wahrnehmung, dass wir oft nicht so recht entscheiden können, was da bedrohlicher ist: das Kunstwerk selbst oder die Art wie wir darüber nachdenken und wozu wir das Kunstwerk durch unser Denken machen.

 

Darin liegt einer der vielschichtigen Ansätze von Axel Philipp: Fallen zu stellen in den Beziehungen zwischen verbindlicher Gegebenheit, deren wir als Natur habhaft werden möchten den im Bewusstsein produzierten Bildern, in denen wir die vorfindbare Außenwelt
In den Metaphern der Kunst gestaltend anpassen wollen.

 

Das Verfahren ähnelt der Monotypie, einem Blindruckverfahren, das in der Austauschbarkeit und der Wechselbeziehung von Gestaltung und Findung die Ästhetik als Konstitution verwertet. Im eigentlichen Sinne als Ziel einer Beobachtung und dann einer Erfahrung und eben nicht als bloße Funktion einer Vernutzung. Die erweiterten Bedingungen lassen andere Erfahrungszusammenhänge zum Zuge kommen, freiwillig oder unfreiwillig bloßgelegt, und folglich um vorschnelle Semantisierungen zu unterbrechen.

 

Schmirgel-Papier: Von der gesellschaftlich-industriell genormten Form zu einem plausiblen Gegensatz zwischen ästhetischer Konstitution und interpretatorisch-funktionaler Verwertung, im Zustand höchster Ordnung und unendlicher Möglichkeiten zugleich – eine Fülle und Harmonie, die souverän neben Klassikern der Bildidee bestehen kann.

 

Raum, in seiner gesamten dinglichen Erfüllung, verteilt die Dialektik der Aufklärung, Naturbeherrschung und Naturbetrachtung auf ein suggestives Bild, in das sich nun auch Rückprojektionen einmischen. Die graphische Auflösung auf Schmirgel-Papier, die eine von Kraft- und Energieströmen durchwirkte Natur bezeichnet tritt an die Stelle einer sich im Licht brechenden und aktivierenden Irritation gewesener und zukünftiger Bilder.

 

Das Recycling von Kunstgeschichte und Zeit behauptet nun beiläufig die Existenz von Leonardo da Vincis Sintflutskizzen (ca. 1514) ebenso wie Monets Reflexionen der Weiden (ca. 1918-25). Wir begegnen den schwarzen Stichen Wassily Kandinsky (1913), Number 32 von Jackson Pollock (1950), Cuodro 97 von Mando Milaras (ca. 1966), der automatischen Zeichenschrift Sonderborgs (ca. 1960) und wieder zurück zu den Wolkenbildern von Corot (1918-20) und in der romantischen Tradition, Caspar David Friedrichs Mönch am Meer (1808/9).

 

Dergleichen Abgründe drohen, sie verbergen sich in der räumlichen Schichtung der Oberfläche, der Vorderseite der Dinge; in der Überwältigung des Menschen durch Bilder ohne jede Koordinaten, die das feste Gerüst des Raumes gewährleisten und die feinsinnige Beobachtung des Betrachters definieren. Dem Rückgriff auf Rudimente von Landschaft folgt eine direkte und expressive Bildsprache, die derlei völlig zurückdrängt.

 

Aus den abstrakten Möglichkeiten der Malerei gedacht, denkt Axel Philipp weiter vorwärts, in der Akzentverschiebung zwischen Gegenständen der äußeren Welt und inneren Bild-Strukturen. Sorgfältig und gerissen darauf bedacht, dass seine Schmirgel-Papiere sich nicht als Illustration von Gedanken einfangen lassen, um sie zu vereindeutigen. Kausalität ist dafür keine geeignete Kategorie und Vernutzung fügt sich nicht in gattungsgemäß einzuordnende Bilder.

 

Le Monde (die ganze Welt) und le tableau (die Tafel) gehen eine direkte Beziehung ein. Improvisation einer strengen Komposition aus Zeit und optischer Unschärfe, , die eine unmittelbare Beteiligung des Sehens und Beobachtens herleiten und voraussetzen – ohne jede wissenschaftliche Vorbilder.

 

Wir sind involviert durch die unbegrenzte Offenheit optischer Strukturen und ihrer Überfülle an Naturhaftigkeit. Das sinnliche Angebot gibt keinen Begriff ab, in dem wir es zusammenfassen könnten, um es abzuschließen. Schwingend und lichtvoll. Gleich flach und tief. Erde, Wasser, Luft. Räumliche Schichtung. Verflüchtigte Malerei. Sich rechtwinklig kreuzende Zeichen aus dem Mittelpalläolithikum.

 

Das auf den ersten Blick völlig starre der Farben, fundamentale und einfachste Repräsentanten der gesamten anschaulichen Welt, bricht auf und vernutzt sich im Prozess abgeschlossener Zeit-Schichten zur filigranen und bewegten Dosierung von Linie, Fläche und Licht. Das Mechanische scheint sublimiert bevor die Wahrnehmung folgt: Eine ideale Verbindung des rechten Winkels mit Schwarz und Weiß, von der wir nicht wissen, ob sie im Prozess des Hervorkommens oder des Vergehens festgehalten wird.

 

Axel Philipp bewerkstelligt diese Versöhnung von Zufall und Automatismus gelenkter Spuren entlang paradoxer Ordnungszustände. Malerei zeigt sich hier wirkungsgeschichtlich als Vorarbeit. Es ist 1 Bild, ohne dass man dabei Teile dieses Ganzen benennen könnte. Aus der Idee des bewussten surrealistischen Automatismus wird die Schranke weit über die angesichtige Wirklichkeit hinaus geöffnet.

 

Auflösung und Verdichtung sind aufs höchste gesteigert. Sie machen jenen Blick in das naturhafte schöpferische Chaos sichtbar, das unsere Existenz entlaste: als einen höchst anfänglichen Zustand, als ein allererstes, ursprüngliches Beginnen, eine allererste Spur, sich dem Risiko der Einmischung auszuliefern.

 

Was Petrarca sieht sind Berge, Flüsse und das Meer und nicht etwa künstliche Ordnung menschlicher Siedlungen. Was wir sehen ist neu und neu zu erforschen: Wie sich Holz in Papier verwandelt, wie aus Papier Schmirgel-Papiere produziert werden, wie diese nun in das Holz zeichnen. Wohl jede Erscheinung in der Natur, richtig und würdig und innig aufgefasst, kann ein Gegenstand der Kunst werden, in dem historische Vorgänge historisch werden und der historische Prozess zu einem Bestandteil im Bewusstsein wird.

 

Eine werkimmanente Struktur anstelle eines externen Gegenstandes , den zu erklären und zu illustrieren zur Funktion des Werkes gehört. Nicht nur in Hegels Phänomenologie des Geistes sondern mittelbar, beiläufig und hintersinnig in den Schmirgel-Arbeiten von Axel Philipp

 

Wolf Pehlke

 

 

Quellen:
K. Ludwig Pfeiffer
Literarische Landschaften im England des 19. Jahrhunderts

 

Hans Blumenberg
Zur Methaphorolgie

 

Gottfried Boehn
Das neue Bild der Natur