Franz Littmann, 1994

 

Hoch-Sitz / Schau-Platz

 

Die Ausdehnung der Entmaterialisierung der Welt hat Aus- und Nebenwirkungen. Unvermeidlich damit verbunden ist eine spezifische Verarmung. Das Reflexions-Ich, das möglichst nichts mit der Materie zu tun haben möchte, sucht seine Selbstbestätigung in seinem eigenen Denken. Das Verhältnis zum Anderen gestaltet es so, dass ihm im Anderen nur sein Spiegelbild begegnet. In der Rede des Anderen versteht es nur das, was es selbst in sie hineinlegt. So schließt sich das Spiegelkabinett: Die sprachlich verdoppelte, d.h. entmaterialisierte Wirklichkeit verdoppelt sich ein weiteres Mal. In der Rede, im Diskurs mit den Anderen. Sprache wird mehr und mehr zum „Mord an den Dingen und an den Menschen“ (Kamper). Der leibhaftige Ausdruck, die sinnliche Materialität werden als störend empfunden, weil die Bemächtigungsstrategien des neuzeitlichen Individualismus in einer Gesellschaft, die sich immer mehr über die Verbreitung von Informationen reproduziert, zunehmend zur Totalität hin tendieren. Der Ausgangspunkt der Moderne , dass Natur und Materie der wertvolleren Substanz, dem Denken und der Vernunft untergeordnet sind, wird endgültig Realität.
Zum Ausdruck gebracht wird dieses Verständnis durch die Sitzhaltung. Sie stellt eine Distanzierung dar gegenüber atavistischen Persönlichkeitsstrukturen, die noch Abstützung durch Götter, Ahnen, Gemeinschaft usw. brauchen.
Heutzutage erleben wir die Selbstvergötterung des Menschen. Eine religiös unterbaute Subjektivität wird durch säkularisierte Vorstellung von sich selbst ersetzt. “Das Ich unterjocht raubt tödtet und thut jede Gewalttat: mit alledem will es nichts als seiner Schwangerschaft diene: damit es einen Gott gebäre und alle Menschen ihm zu Füßen sehe“- so diagnostizierte Nietsche den Sachverhalt.
Das Instrument, mit dem Gottähnlichkeit hergestellt wird, ist das Auge. Ihm wird die absolute Vorrangstellung vor allen anderen Sinnen eingeräumt. Das Auge sieht, hält Distanz, kontrolliert usw., ohne selbst gesehen zu werden. Jetzt herrscht der Mensch über seine Natur. Verkörpert wird diese Haltung durch den (Hoch)-Sitzenden; es ist die säkularisierte Herrschaftsgeste des Thrones. Aber die Hybriden-Existenz des “homo clausus“, der die Naturzwänge aufhebt und jede Referenz auf Anderes vergisst, fordert Opfer. Symptomatische Erscheinungen am Ende dieser Entwicklung sind Rückzug, Reterritorialisierung in scheinbar autarke, in Wirklichkeit wahnhafte Gemeinschaften, Depression, Sucht, selbstzerstörerisches Ausagieren, Arbeits- und Leistungsverweigerung usw.. Unter solchen Verhältnissen wird der Andere nur als Störung empfunden. Ja sogar als Bedrohung, als Eindringling. Sein Gesicht, sein Lachen, sein Rauchen, seine pure Existenz strahlen ein unvergängliches Begehren aus (Zizek). Es durchkreuzt und behindert den Willen, alles auf das Selbe zurückzuführen. Darauf reagiert der moderne Mensch mit Ausschluss des Anderen und nahezu vollständiger Selbsteinschließung. Auf das damit verbunden Lebensgefühl beziehen sich Rilkes Gedichtzeilen:


„Ich bin nur einer deiner Ganzgeringen,
der in das Leben aus der Zelle sieht
und der den Menschen ferner als den Dingen,
nicht wagt zu wägen was geschieht.“

 

Indem sich der Mensch festgesetzt hat in der Zelle (selbsteingeschlossen, selbstkontrolliert, selbst-ständig), ist er zu dem geworden, was er zu überwinden versuchte: Ein Opfer von Zwängen. Das Spiegelkabinett der deformierten (präformierten, in-formierten) Wahrnehmung bedeutet ein Verlust an Lebendigkeit, der auch durch ein Maximum an körperlicher Anstrengung nicht kompensiert wird (Laufen, Arbeiten, Tanzen usw. bis hin zum „Karoshi“).

Indem Axel Philipp eine elementare Denkfigur der Moderne thematisiert, nämlich das Aufrichten/Hochsitzen, bringt er undurchschaubare Selbstzwänge unserer Gesellschaft zur Sprache. In der Kanzel, hochsitzend, reduziert auf das Beobachten des Objekts, kontrollierend, den Blick ge-richtet (dasselbe geschieht auf der Kanzel, in der Kanzel und im Kanzleramt), bemächtigt sich der Mensch der Welt, der Natur....., verliert den Bezug zur Welt, zum Anderen.
Wie ein Schamane hält Axel Philipp dieses Welt-Bild präsent. In der Art und Weise jedoch, wie er es zum Ausdruck bringt, verweist er auf mögliche Auswege, auf eine höhere Bewusstseinsstufe, auf eine mögliche Ethik des Blicks, wie man sie beispielsweise in Kafkas Schriften findet. Voraussetzung dafür ist aber die Wahrnehmung der perspektivischen Verzerrung, d.h. der Deformation und Verunstaltung. Nur das Bewusstsein davon kann uns dazu verhelfen, von unserer verzerrten Gestalt Abstand zu nehmen....